Erinnerungen an Reinickendorf

Der Autor Erdmann Kühn lässt in seinen Romanen seine Jugend aufleben

 

VON STEPHAN KUEHMAYER

Reinickendorfer Allgemeine, 27.7.2017

 

Friedel ist ein kleiner Junge und hat einen grünen Roller. Es ist ein Modell mit Rücktrittbremse und Berlin-Fähnchen am Gepäckträger. Damit fährt Friedel gern die Baseler Straße hinunter, biegt links am kleinen Eckladen in den Grindelwaldweg ein, um in der Aroser Allee herauszukommen. Die ist zwar schon damals, zu Beginn der 1960er Jahre, stark befahren, doch auf dem breiten Mittelstreifen lässt sich prima rollern. Großen Eindruck auf Friedel macht auch der Doppeldeckerbus der Linie 12, die seinerzeit dort verkehrt. Der dicke Mann von der Doornkaat-Werbung lächelt ihm freundlich zu, auch wenn er mit dem Getränk als Kind wenig anfangen kann.

    Der Name Friedel ist natürlich frei erfunden, doch trotzdem hat der Protagonist in dem Roman "Der Junge auf der Schaukel" einen realen Hintergrund. Der Autor Erdmann Kühn, geboren 1956,

beschreibt in dem literarischen Werk seine Kindheitsjahre zur Zeit des Mauerbaus. Er lebt damals im Pfarrhaus der Evangelischen Luthergemeinde in der Baseler Straße. Die Schaukel hängt tatsächlich im Garten, es gibt sogar ein Baumhaus. Die Kindheit scheint weitgehend unbeschwert, auch wenn die Mutter viel zu früh stirbt. Friedel, respektive Erdmann, verbringt die Freizeit mit Gleichaltrigen, der Schäfersee ist das bevorzugte Revier. Besonders angetan hat es dem Jungen die Eisfabrik Mudrack und die dreirädrigen Lieferfahrzeuge für die Eisblöcke. In Zeiten, in denen Lebensmittel noch in Zinkblech ausgekleideten Truhen gekühlt werden, stellt die Belieferung ein großes Ereignis dar. Friedel versucht, mit seinem Roller den Lieferwagen zu überholen, um die Mieter durch die Briefklappe zu informieren "Der Eismann kommt".

    Vieles in dem Roman ist autobiographisch, wenn auch nicht alles. "Es ist eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit", sagt der Schriftsteller. Vieles sei so oder ähnlich passiert, an manches könne man sich aber nach rund einem halben Jahrhundert auch nicht mehr erinnern, bittet der Schreiber um Verständnis. Der Pfarrerssohn zieht übrigens später mit dem Vater und fünf Geschwistern nach Heiligensee, entdeckt nun, in der fortgeschrittenen Jugend, neue Gegenden, andere Ortsteile. Im Jahr 1975 macht Erdmann Kühn sein Abitur am Georg-Herwegh-Gymnasium.

    Es ist nur konsequent, dass die Geschichte um Friedel seine Fortsetzung findet. In ... "Abschied von Berlin" schildert der Erzähler auf 300 Seiten seine Erlebnisse vom ersten Kuss auf der Rückbank eines Autos und von der ersten Teilnahme an einer Demo als Zwölfjähriger. Es geht um Mädchen, um Rauchen, um die Disko; wer erinnert sich nicht gern daran? Frohnau, Hermsdorf, Waidmannslust und Heiligensee sind die Schauplätze des Geschehens.

    Eddi, so der Spitzname, zieht übrigens zum Studium ins Rheinland, wird Lehrer für Kunst, Musik, Deutsch und Geschichte. Der verheiratete Familienvater hat außer der Leidenschaft für das Schreiben noch weitere Talente. Er macht Musik, ist seit 1984 Leiter des Kölner Chores "Unerhört". Die beiden Friedel-Romane sind ebenso wie drei weitere Veröffentlichungen über den Buchhandel zu beziehen.

 

 

Eine Lesung der besonderen Art

VON MARGRET GRUNWALD-NONTE

Bürgerportal in-gl.de, 15.9.2016

 

Ein Autorenabend der besonderen Art fand im Schildgener Begegnungs-Café Himmel un Ääd statt: Eine Lesung mit „leisen“, eindrucksvollen und emotionalen Tönen – in einer berührenden Atmosphäre für die kleine Gruppe der aufmerksamen ZuhörerInnen.
    Eddi Kühn beginnt nach kurzer Vorstellung seiner Person (er lebt in unserer Region, ist mit Herzblut Lehrer, Musiker, Chorleiter, er singt, komponiert, arrangiert und schreibt seit 2011) aus seinen Büchern zu lesen: Himmel und Erde – Vaters Tagebücher 1926-1946 und Mein Kopf der ist ein Zimmer (eine Zeitreise in die späten siebziger Jahre).
    Eddi stellt abwechselnd ausgewählte Passagen aus den Tagebüchern seines Vaters und aus den Schilderungen eines Studentenlebens der späten Siebziger vor. Letzteres beinhaltet – wie er uns später in der anschließenden Diskussion augenzwinkernd verrät – autobiografische Züge. Eindrucksvoll, emotional dicht klingen die Tagebuchaufzeichnungen von Gerhard Kühn, Eddis Vater – anschaulich beschrieben werden Alltagserfahrungen aus dem Berlin der 30er und 40er Jahre, persönliches Erleben vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Jahre vor dem 2. Weltkrieg und währenddessen.
    Dem gegenüber gestellt werden das Leben, die Träume und Sehnsüchte eines Studenten in den 70er Jahren – auch hier sind die Beschreibungen so detailliert und facettenreich, dass der Zeitgeist dieser Epoche spürbar wird. Es erscheint wie eine Zeitreise zwischen zwei Generationen, die zwar unter verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen gelebt haben – deren menschliche Bedürfnisse, Nöte und Sehnsüchte sich jedoch sehr ähneln.
    Eddi Kühn hat es geschafft, aus der Seekiste voller Tagebücher, die der Vater seinen Kindern hinterlassen hat, nicht nur einen Lebenstraum seines Vaters – leider erst nach dessen Tod – erfüllen zu können, nämlich die literarische Verarbeitung seiner Tagebuchaufzeichnungen, sondern auch unter zeitgeschichtlichen, politischen Aspekten die Erfahrungen und das Lebensgefühl der Kriegsgenerationen (aus dem 1. und 2.Weltkrieg) für nachfolgende Generationen zu bewahren.
    Im Anschluss an die Lesung folgte noch ein anregender Austausch über das Gehörte. Vertiefende Fragen der Zuhörer – in einer Altersspanne zwischen 20 und 80 plus – sowie spannende und auch sehr persönliche Antworten machten diesen Abend wunderbar rund und Lust auf mehr ….

 

Ein Road-Movie in Buchform

Erdmann Kühn,Lehrer an der Hauptschule Ahornweg,

hat sein Erstlingswerk geschrieben: „Jascheks Reise“

 

VON KARIN GRUNEWALD

Kölner Stadtanzeiger, 7.11.2011

 

 „Wenn ich mal groß bin, will ich ein Buch schreiben“, sagte Erdmann Kühn, als er in dem Alter war, in dem Jungs sonst eher Feuerwehrmann oder Baggerfahrer als Fernziel angeben. „Dann war ich groß und es war immer noch nichts passiert“, sagt der 55-jährige Kühn beim Gespräch zwischen Kaffee und Spekulatius in seiner Küche. Nach dem alten Leitspruch, dass man seine Träume nur verwirklichen kann, wenn man daraus erwacht, reduzierte der Lehrer an der Gladbacher Hauptschule Ahornweg vor drei Jahren seine Stunden. Seither hat er einen freien Freitag, an dem er sich an den Computer setzt und schreibt. Mit „Jascheks Reise“ hat er jetzt sein erstes Buch veröffentlicht. 


„Jaschek ist eine Kunstfigur, die aber mit mir zu tun hat.“ 

Jaschek, allein reisender Familienvater in den besten Jahren, fährt nach Südfrankreich und gerät in einen Strudel scheinbar absurder Ereignisse, die seinen Urlaub zum einen gänzlich anders verlaufen lassen als geplant. Zum anderen kehren Erinnerungen an eine andere Reise zurück, die ihn 29 Jahre früher nach Frankreich, Spanien und Portugal führte. Vor 29 Jahren reiste auch Erdmann Kühn per Anhalter durch eben diese drei Länder, damals war er 26. „Jaschek ist eine Kunstfigur, die aber mit mir zu tun hat“, sagt Kühn. Die Rahmenstory sei erfunden, doch viele Episoden habe er selbst erlebt.

    Kühn hat schon sein ganzes Leben lang Geschichten gesammelt. Die meisten davon stehen im Kopf, manche auf Papier, wie auch die von der Tramper-Tour, die in einem fast 30 Jahre alten Notizbüchlein eines Teenagers überlebten. Dieser notierte damals, wie er in Panik aus dem Appartement eines Sportwagenfahrers floh, weil der Mann mehr wollte, als das versprochene Frühstück zu kredenzen. Er notierte auch, dass „das Kriterium für wirklichen Sommer ist, ob man die Socken aushat“. Heikles steht in Kühns Buch neben Alltäglichem, Erlebtes neben Gedachtem. Die Geschichten im Kopf wollten raus, wollten nicht in Vergessenheit geraten. „Ich bin nicht so ein toller Redner“, sagt Kühn. Also schrieb er. Nicht über die eine große Story des Lebens, sondern über genau jene kleinen, skurrilen Dinge, die täglich passieren, und die sich ins Hirn brennen, weil sie anders, weil sie besonders sind.

    Als „Road-Movie“ bezeichnet er sein Buch, musste aber feststellen, dass Verleger in anderen Kategorien denken. Für einen Krimi nicht genug Krimi, für einen Roman zu kurz: „Das passt in keine Schublade“, bekam der Autor zu hören. Doch die kleinen Geschichten des Lebens passen eben nicht in eine Schublade. Eher schon in das Büro des Geschichtensammlers. Hier quetschen sich Bücher an Fotoalben, Instrumente an CDs; an den Wänden pappen Fotos, Kinderzeichnungen, Postkarten und handgeschriebene Zettelchen, die kleine Begebenheiten dokumentieren. Ein Raum voller Erinnerungen und Emotionen.

    Erdmann Kühn wuchs in Berlin auf. Sein Vater war Buchdrucker und Bücher gehörten zum Familienalltag. „Ich war schon immer sehr interessiert an Wörtern“, sagt Kühn. Studiert hat er dann jedoch Musik und Kunst in Köln. Mit einer gemischten Wohn-gemeinschaft zog er 1984 in das Haus in Bergisch Gladbach-Sand, in dem er noch heute wohnt. „Die WG war die Sensation am Ort.“ Das hätten die Nachbarn ihm aber erst später gesteckt. Wieder eine Geschichte für die Sammlung. Zu fünft waren sie damals, am Ende er und vier Frauen, ganz am Ende nur noch eine Frau: die, die er heiratete.

    Seit fast 27 Jahren leitet Kühn den Kölner Chor „Unerhört“. Statt Erfolge und 30-jährige Geschichte des Chores aufzuzählen, präsentiert er auch hier lieber eine kleine Geschichte: „Einen Chor leiten? Auf diesen Gedanken wäre ich vorher im Leben nicht gekommen. Aber neugierig war ich, und so ging ich zum Probedirigieren in einen finsteren, übel nach Hundefutter riechenden Raum hinter der alten Feuerwachen-Kneipe, unter dem Arm ,Michelle’ von den Beatles. Leider vierstimmig, was sich als Problem erwies.“ Der Name des Chores entstammt der Überzeugung, mit Botschaften aus der Reihe zu fallen, die sonst „unerhört“ bleiben würden. Ein wenig passt das zu den Geschichten, die Erdmann Kühn aufschreibt, damit sie nicht ungelesen bleiben.


„Wir sind mal eben nach Barcelona gefahren.

Dann  hatten wir dort ein paar Stunden und mussten wieder zurück.“

Solange er noch Gerüche, Gefühle und Geschehnisse im Kopf hat, will er weiterschreiben. „Gut, dass ich angefangen habe“, sagt er. „Die anderen Sachen wollen auch noch raus.“ Jaschek könnte zum Beispiel eine Reise nach Südamerika unternehmen. Auch dorthin reiste Kühn mit 25 Jahren drei Monate. „Als Jugendlicher war noch alles offen, noch nicht alles so festgelegt.“ Eine großartige Zeit mit verrückten Ideen und ebensolchen Aktionen sei es gewesen. „Wir sind zum Beispiel mal eben nach Barcelona gefahren. Dann hatten wir dort ein paar Stunden und mussten wieder zurück.“

 

    Seiner Erfahrung nach ist die „Jugend von heute“ anders. „Die machen gar nicht mehr solche verrückten Dinge“, sagt der Lehrer und zweifache Vater. Schon für einen Zelturlaub ließe sich kaum mehr ein Jugendlicher begeistern. „Hotel oder voll ausgestattete Ferienwohnung – die Ansprüche sind da sehr hoch geworden.“ Jaschek, nein Kühn, trampte vor 29 Jahren auch ohne Zelt, schlief nicht selten auf offenem Feld, wenn es sein musste mit Socken. Dafür aber hat er Geschichten erlebt, die ihn geprägt haben, die das Leben mit Erfahrungen, Emotionen, Spannung und Spaß gefüllt haben – und für die er weder beim Erleben noch beim Aufschreiben eine Schublade benötigte.